Mythen, Sagen und Zaubermärchen
Alte Zaubermärchen werden heute meist als moralisierende, raum- und zeitlose "Es war einmal..." Phantasiegeschichten hingestellt wo das Gute letztendlich über das Böse obsiegt. Aus unserer derzeitigen gesellschaftlich- kulturellen Denkweise heraus, die sich nach Realitäten sehnt, die kausal erklärbar sind, durchaus verständlich. Hier bin ich, dort ist die Realität – stets sauber getrennt und wenn, dann nur in rein kausaler Beziehung miteinander verbunden.
Betrachtet man die alten Zaubermärchen aus einem mythologischen Blickwinkel, wird erkennbar, dass diese Märchen keine Phantasiegeschichten mit moralisierendem Anspruch sind, sondern Beschreibungen von Wirklichkeiten in einer sehr bildhaften Sprache. Unter Wirklichkeit verstehe ich in diesem Zusammenhang den fortlaufenden schöpferischen Prozess aus einem (emotionalen, seelischen) Wirken heraus. Zaubermärchen gestatten uns einen wunderbaren Blick zurück in die Welt unserer Ahnen und ihren Mythen, eine beseelte Welt mit einer respektvollen Mansch-Natur-Beziehung.
Diese Blogreihe über Mythen, Sagen und Volksmärchen soll als Versuch verstanden werden, den mythologischen Gehalt alter Volksmärchen und Sagen herauszuarbeiten und zu interpretieren und nicht als allgemein gültige Wahrheit. Es ist meine Wirklichkeit, die aus meinem Wirken heraus entsteht.
Schneewittchen:
Das Jahresrad - der ewige Zyklus und der Versuch aus diesem auszubrechen.
Wer es noch nie bzw. schon lange nicht mehr gelesen hat, oder einfach wieder mal nachlesen möchte.
Schneewittchen erzählt uns eine Geschichte über den ewigen Zyklus des Jahresrads und dem Versuch aus diesem Zyklus auszubrechen. Das Jahresrad wird Mittwinters (etwa um den 15 Jänner) vom goldborstigen Eber Jul von neuem angeschoben, bis es dann mit Beginn der Rauhnächte wieder zum Stehen kommt.
Hier ist bereits erkennbar, dass für unsere Ahnen die Zeit nicht etwas Lineares war, sondern zyklisch gesehen wurde. Die immer wiederkehrenden Jahreszeiten etwa waren für sie Zeuge davon. Auf den Winter folgt das Frühjahr und die „toten Pflanzen“ erwachen wieder zum Leben. Auf diesem immer wiederkehrenden Jahresrad gab es bestimmte Fixpunkte (Feste – von „Fest“) die gefeiert wurden. Dieser fortlaufende, dauerhafte Rhythmus gab unsere Ahnen die Sicherheit, dass auf den Tod immer eine Wiederkehr folgt.
Mit dem Jahresrad kommt auch die große Göttin, die Magna Mater ins Spiel. Mit dem Wiederanschieben des Jahresrades erwacht auch die neue Jahresgöttin, die unsere Ahnen über das Jahr begleitet hat, bis sie mit dem Beginn der Rauhnächte in die Unterwelt abtaucht und Platz macht für die neue Jahresgöttin. Von Anbeginn der Menschheit – bzw. seit seiner Bewusstwerdung - vor ca. 100.000 Jahren - gab es einen sehr lange andauernden Göttinnen Kult, der erst mit dem langsamen Wechsel zu einem patriarchalen Weltbild um ca. 2000 v.Chr. zu enden scheint.
Aus der einen großen Göttin entwickelt sich im Laufe der Zeit eine Göttin mit drei Aspekten, eine weibliche Trinität sozusagen. Diese drei auch farblich gekennzeichneten Aspekte stellen drei schöpferische Phasen der einen Göttin dar, die zyklisch ineinander übergehen.
Der weiße Aspekt beschreibt den geistigen Schöpfungsaspekt, der im Jahresrad für den Vorfrühling steht und in den Mondphasen für den Neumond - der feinen, zarten Mondsichel, der Wiedergeburt des Mondes. Der rote Aspekt beschreibt den physisch/irdischen Schöpfungsaspekt, die Phase der Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Geburt, den Sommer und den Vollmond. Der schwarze Aspekt verkörpert den Schöpfungsaspekt der Transformation und der Wandlung. Die Natur zieht sich zurück und übergibt die Kraft an die neuen werdenden Pflanzen, der Mond nimmt ab und bleibt schließlich drei Tage als Schwarzmond im Dunklen, bevor er wieder als Neumond geboren wird.
Schneewittchen begegnet uns hier leicht erkennbar als die große Göttin, als Magna Mater mit ihren drei Aspekten in den Farben Weiß, Rot und Schwarz. Es hat eine Haut, weiß wie Schnee, ihre Lippen sind rot wie Blut und die Haare schwarz wie Ebenholz.
Auch Ihre Stiefmutter (in älteren Versionen ist es immer nur die Mutter: die Passage mit der Stiefmutter wurde wohl erst später eingeführt, da es offensichtlich undenkbar ist, dass eine Mutter ihre Tochter töten möchte) repräsentiert die große Göttin, die sich jedoch weigert, dem Rhythmus des Jahresrades zu folgen und dem roten Aspekt der Fruchtbarkeit, Fülle und Schönheit den schwarzen Aspekt der Wandlung und Transformation folgen zu lassen.
Für unsere Ahnen stirbt die Erde mythologisch jedes Jahr um die Rauhnächte und kehrt in das Reich der Toten zurück, bevor sie um Mittwinter neu geboren wird. Symbolisch dargestellt durch den Tod der Jahresgöttin oder -königin des vergangenen Jahres und der Geburt der neuen Jahresgöttin/-königin für das kommenden Jahr.
Im Märchen möchte die alte Jahreskönigin aber nicht ihre Machtfülle und Schönheit an die neue Jahreskönigin übergeben, sondern für immer behalten. Sie versucht aus diesem ewigen Zyklus auszubrechen. Sie befehligt einem Jäger Schneewittchen zu töten. Doch dieser tötet es nicht. Schneewittchen muss fliehen. Sie flieht aus unserer Erde und findet hinter den sieben Bergen die sieben Zwerge, die es beschützen und behüten. Symbolisch stehen die sieben Zwerge für die sieben klassischen Planeten, Sonne Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus und Saturn, also jene die mit bloßem Auge sichtbar sind. Schneewittchen flüchtet aus unserer Welt hinter die sieben Planetensphären die unsere Welt wie Zwiebelschalen umhüllen und wird hinter diesen 7 Sphären von den sieben Planeten beschützt. Sie muss jetzt dort verweilen, bis ihre Zeit als neue Jahreskönigin gekommen ist.
Noch dreimal wird die alte Jahreskönigin versuchen die neue Jahreskönigin zu verhindern. Zunächst versucht sie ihr mit einem Schnürriemen (Korsett) den Atem zu rauben, den schwarzen, seelischen Aspekt Schneewittchens, dann versucht sie mit einem giftigen Kamm, der Schneewittchen in den Kopf sticht, den weißen, geistigen Aspekt Schneewittchens zu töten. Mit einem vergifteten Apfel (der Apfel ist seit jeher ein Fruchtbarkeitssymbol und somit ein Symbol der Weiblichkeit) soll der rote Aspekt, die Fruchtbarkeit selbst, getötet werden.
Im gläsernen Sarg eingefroren (steht symbolisch für den Winter) wartet sie, bis das Frühjahr kommt. Schließlich erscheint der neue Jahreskönig in Form eines Prinzen, der den Sarg in sein Schloss bringen will (also zurück auf die Erde). Der Sarg fällt zu Boden, das vergiftete Apfelstück springt aus Schneewittchens Hals und die Erde erwacht von Neuem.
Das Märchen zeigt uns symbolisch den ewigen Erdenrhythmus, vom immerwährenden Sterben und Werden und den Versuch der Jahreskönigin in Form der Mutter oder Stiefmutter aus diesem Zyklus auszubrechen und eine Zeit immerwährenden Reichtums heraufzubeschwören. Der Versuch endet mit dem Tod der Königin. Nichts wächst ewig. Alles ist einem Zyklus unterworfen. Altes muss Platz machen damit Neues gedeihen kann.
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